Museumsleiter und Medien schreckte dieser Tage eine Nachricht aus Benin City auf: Die von Deutschland bereitwillig an den nigerianischen Staat restituierten Bronzeplastiken wurden von dessen Präsidenten kurzum der früheren Königsfamilie Benins als privates Eigentum zugesprochen. Damit scheiterten die Absichten der grünen Schenkerinnen, Außenministerin Baerbock und Kulturstaatsministerin Roth, die eigentlich dem gesamten Volk Nigerias zu verlorenem Kulturerbe verhelfen wollten. Und womöglich war die Formulierung von einer „Rückgabe“ der Ausstellungsstücke unzutreffend, denn deutsche Museen hatten die Bronzen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem europäischen Kunstmarkt erworben und in einen bestandswahrenden wissenschaftlichen Sammlungskontext überführt.
Bezeichnungen werden schnell heikel bei Politikvorhaben, die sich als postkolonial verstehen. Was mit „kolonial“ in Verbindung gebracht oder markiert wird, soll nach den Wünschen woker Kosmopoliten aus der Welt geschafft werden. Darunter fallen auch Sammlungsobjekte in den Museen, die oftmals pauschal als „koloniales Raubgut“ bezeichnet werden. Doch den Anhängern der postkolonialen Theorie geht es vorneweg weniger um den Erhalt und die historische Einordnung der Sammlungsobjekte. Hierzulande soll das schlechte Gewissen der Deutschen beschworen werden, sollen die Museen ihre Forschungsschwerpunkte auf die Herkunftswege der Bestände legen, um den Herkunftsländern mögliche Ansprüche auf Rückerstattung nahezulegen, durchaus in Verbindung mit finanziellen Leistungen der deutschen Steuerzahler. Aber inwieweit sind die postkolonialen Pauschal-Rückgaben berechtigt? Verstellt der Blick historischer Ahnungslosigkeit womöglich den Blick auf heutige Entwicklungen in den Ländern in Übersee?
Zumindest haben Museen in Niedersachsen keine Veranlassung dazu, ihre ethnologischen Sammlungen unter den Generalverdacht des „kolonialen Raubguts“ zu stellen und entsprechende Kunstobjekte als Raubkunst brandmarken zu lassen. Seit einigen Jahren arbeiten sechs niedersächsische Museen mit völkerkundlichen Sammlungen an einer digitalen Bestandserfassung im Rahmen des gemeinsamen Projekts PAESE (Provenienzforschung in außereuropäischen Sammlungen und der Ethnologie).
Die Ergebnisse der PAESE-Datenbank widersprechen dem Verdacht, dass Museumsobjekte aus kolonialem Kontext pauschal „Raubgut“ wären. Vom frühen 20. bis zurück ins 18. Jahrhundert reicht der Zeitraum, in dem diese Sammlungen entstanden. Von den annähernd 2000 Objekten sind etwa 80 Prozent als Schenkungen klassifiziert, sieben Prozent gelangten als Ankäufe in Museumsbesitz, sechs Prozent durch Dauerleihgabe und Tausch. Lediglich bei weiteren sieben Prozent ist die Erwerbsart nicht erwiesen. Wie diese Objekte erlangt wurden, wird wohl auch nicht mehr zu klären sein. Der gerne vorgetragene Vorwurf, es handele sich bei ethnologischen Sammlungen pauschal um Raubgut, kann hiermit als klar widerlegt gelten.
Stattdessen gab es in der Gegenrichtung einen erheblichen Transfer von Wissen und Technologie, der in den wenigen Jahrzehnten, in denen die so genannten Schutzgebiete bestanden, vom Deutschen Kaiserreich nach Übersee erfolgten: Aufbau von Plantagen- und Agrarwirtschaft, Export von Technik und Industrialisierung mit Anschluss an globale Märkte. Schulsystem, Missionierung und Gesundheitswesen. In Pachtgebiet Tsingtau entstand beispielsweise erstmals eine Deutsch-Chinesische Hochschule. Verkehrswege und Bahnlinien bilden in einigen Gebieten Afrikas die Grundlagen heutiger Infrastruktur. Nicht zu vergessen die Urbanisierung – aus Stadtplanungen wie in Dar es Salam, Windhoek oder Kiautschou entstanden große Metropolen. Die deutschen Kolonien waren Investitionsstandorte, die das Deutsche Reich mehr kosteten als sie erwirtschafteten.
Auch dies sind Kulturleistungen, die in materialer Form in den früheren Überseegebieten verblieben sind und deren Bedeutung auch wissenschaftlich zu würdigen sind. In Zeiten, in denen schnell mit Schuldzuschreibungen wie „Raubgut“ oder „weißen Privilegien“ agiert wird, ist es besonders wichtig, kritisch die damit verbundenen Ziele und Interessen zu hinterfragen. Offenbar ist eine voraussetzungslose Rückgabe im Einzelfall dem Kulturgutschutz und der Verfügbarkeit für die Allgemeinheit sogar abträglich. Ironie der Geschichte: was heute „kulturelle Aneignung“ genannt wird, galt noch vor kurzem als Kulturtransfer – und gerade die Ethnologie zeigt, dass solche Praktiken zu allen Zeiten in allen Kulturen üblich waren.
Denken wir weiter in die Zukunft – welche Erkenntnisfortschritte wünschen wir uns von der Arbeit der Museen und universitären Studiengänge? Klar ist, die Aufarbeitung der eigenen Geschichte kann nicht nur einseitig parteiisch erfolgen. Auch das in den früheren Kolonien verbliebene deutsche Kulturgut gilt es zu erfassen und zu erhalten. Genau dies wäre ein vielversprechendes Forschungsprogramm für folgende Jahre: die Bestandsaufnahme, digitale Erfassung und kulturelle Sicherung auch dieses Kulturerbes im Ausland – sei es museal, denkmalschützerisch, archivarisch und medial. Wie viele Schriftzeugnisse, Bilder und Alltagsgegenstände aus heimischer Herstellung werden in den Familien dort noch aufbewahrt und vererbt? Was verraten die Straßenzüge? Welche sichtbaren oder verborgenen Kontinuitäten ziehen sich durch das Alltagsleben der Menschen?
Vielleicht stellen solche Betrachtungen auch neuere wissenschaftliche Mutmaßungen in Frage oder führen zu ganz unvermuteten Erkenntnissen. Zu begrüßen sind in jedem Fall Forschungsprojekte und Kooperationen zwischen Museen in Deutschland und Übersee, die auch eine zeitaktuelle Auseinandersetzung mit den afrikanischen und pazifischen Gesellschaften und ihrer heutigen Kultur führen. Ganz so, wie es eine Ethnologie oder Kulturwissenschaft auf der Höhe der Zeit auch mit aktiver Sammlungstätigkeit leisten müsste. Geben wir Museen doch den Freiraum, ihre ethnologischen Sammlungsbestände nicht rückwirkend und rückschauend reduzieren zu müssen, sondern durch zeitgemäße Ankäufe in Gegenwart und Zukunft zu erweitern.